Vom Flüelapass ins Dischmatal: Alpine Wasser in Graubünden
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Vom Flüelapass ins Dischmatal: Alpine Wasser in Graubünden

Alpine Wasser in Graubünden

Für Wandernde sind Bergbäche, Schneefelder und Gletscher selten Ziel eines Ausfluges, sondern eher Teil der Landschaft. Dabei gehören Wasser und Alpen untrennbar zusammen.1 Warum also nicht einmal statt Felsen und Gipfel den Weg des Wassers bestaunen?

Den Resultaten der Beziehung von Wasser und Alpen begegnen Wandernde in den Bergen auf Schritt und Tritt. Es braucht aber etwas Hintergrundwissen, um gezielt den Spuren nachgehen zu können. Eine Reihe von Exkursionsführern ( vgl. Kasten ) hilft beim Entdecken, so zum Beispiel jener über eine Tagesroute in den Bündner Alpen, die spannende Einblicke in die alpine Hydrologie vermittelt.

Hydrologisches Werkzeug Vor dem Aufbruch zur « Wasserwanderung » ist es sinnvoll, die wichtigsten Grundsätze zur alpinen Hydrologie « einzupacken ». Wasser ist weltweit einem ständigen Kreislauf unterworfen, die gesamte Menge an Wasser verändert sich dabei nicht. Der Kreislauf lässt sich durch vier Kenngrössen beschreiben: Niederschlag ( N ), Verdunstung ( V ), Abfluss ( A ) und die Änderung von Speichergrössen ( DS ). Damit kann die Wasserhaushaltsgleichung formuliert werden: N = V + A + DS. Oder etwas salopp ausgedrückt: Es muss gleich viel ins System hineinkommen ( N ) wie herausgeht ( A und V ) und im System gespeichert wird ( DS ). Mit DS werden Änderungen in den Wasserspeichern beschrieben, also die langjährige Ab- oder Zunahme von Eis, Schnee, Grund- oder Bodenwasser. Bei stabilen Klimaverhältnissen ist, über längere Zeiträume betrachtet, kaum mit Schwankungen von DS zu rechnen. Im Zusammenhang mit dem Klimawandel kommt dieser Grösse nun allerdings eine gewisse Bedeutung zu: Es ist tendenziell mit einer Abnahme der alpinen Wasserspeicher zu rechnen, weil die Gletscher schmelzen, der Permafrost taut und sich die Schneegrenze nach oben verschiebt. ∆S :Wasser und Eis Von Davos oder Zernez aus bringt uns das Postauto über den Flüelapass zum Ausgangspunkt unserer Wasserwanderung. Bei der Abzweigung Schwarzhorn steigen wir aus. Wir befinden uns in einem u-förmigen Trogtal, das vom Gletscher geformt wurde. Der Weg geht Richtung Süden und führt über eine kleine Steilstufe in den Kessel von Radönt – einem Hängetal. Der Hauptunterschied zwischen einem Trog- und einem Hängetal ist, dass der Gletscher im Hängetal kleiner war und es deshalb nicht schaffte, den Felsuntergrund so stark abzuhobeln wie der Gletscher des Haupttales. Ganz so kümmerlich wie heute sah der Vadret da Radönt aber früher doch nicht aus. Er war einst das bestimmende Element der ganzen Geländekammer. Dies bezeugen die glatt polierten Gletscherschliffplatten, die Kare unterhalb von Schwarzhorn und Piz Radönt und die eindrücklichen Rundhöcker. Der Rückzug des Gletschers seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist eine imposante Visualisierung der Abnahme der unscheinbaren Speichergrösse DS. Auf der weiteren Wanderung zeigt sich nun eine Fülle von Landschaftsformen, die ihre Ausprägung – direkt oder indirekt – gespeichertem Wasser verdanken: Bergseen, Moränen, Blockgletscher usw. N :weisser und mehr Kommen wir zurück zu unserer Wasserhaushaltsgleichung und schauen sie uns noch näher an. Die Werte der alpinen Variante der Gleichung unterscheiden sich markant von jenen im Flachland. Wenden wir uns nun dem N, dem Niederschlag, zu. Dazu gehen wir auf den höchsten Punkt der Wanderung. Die -Fuorcla Radönt ( 2788 m ) erreicht man vom Ausgangspunkt an der Flüelapassstrasse nach ca. 1 Stunden. Es kann gut sein, dass man sich auch im Hochsommer die grandiose Aussicht auf den Vadret da Grialetsch durch eine anstrengende Traverse eines Altschneefeldes verdienen muss: ein eindrückliches Zeugnis dafür, dass Niederschläge in hochalpinen Lagen zum grössten Teil als Schnee fallen und erst im Sommer, also mit Verzögerung, zum Abfluss kommen. Das hat mit der Höhe über Meer zu tun. Mit 100 Metern Höhenzunahme nimmt die Temperatur im Mittel um 0,65 Grad Celsius ab. Entsprechend länger halten sich Schnee und Eis. Ein zweiter Unterschied zum Flachland: Der Niederschlag fällt in den Bergen nicht nur vermehrt als Schnee, er fällt auch reichlicher. Der Jahresniederschlag nimmt um etwa 60 Millimeter pro 100 Meter Höhenzunahme zu. Es gibt allerdings starke regionale Abweichungen von diesem Mittelwert über das gesamte Alpengebiet. So ist in niederschlagsreichen Gebieten der Nordalpen ( z.. " " .B. Glarner Alpen ) die Niederschlagszunahme viel stärker als etwa im trockenen Unterengadin. V :Verdunstung und Abfluss V wie Verdunstung spielt in den Bergen eine kleinere Rolle, weil in der Höhe die Temperatur und damit auch die Verdunstung abnehmen. Das bringt es mit sich, dass ein grösserer Anteil des Niederschlags für den Abfluss zur Verfügung steht als in Tieflagen. Direkt erfahrbar wird V für Wandersleute höchstens am eigenen Leib. Der Schweiss, den der Aufstieg zur Fuorcla Radönt aus allen Poren treibt, trocknet auch mit den verminderten Verdunstungsraten in der Höhe bei der anschliessenden Pause im Sonnenschein und steigt himmelwärts. Die Klimaindikatoren Nach der Fuorcla Radönt steigen wir zur Grialetschhütte und zum Grialetschpass ab. Vor und nach dem Pass kommen wir an drei Bergseen vorbei. Der letzte und grösste ist der Furggasee. Alpine Seen speichern nicht nur Wasser, sie bergen auch wichtige Hinweise auf das Klima vergangener Epochen und dienen so auch als Archiv für die hier beschriebenen Prozesse rund um die Wasserhaushaltsgleichung. Ihre Sedimente zum Beispiel enthalten biologische Klimaindikatoren. Untersucht werden etwa sogenannte Goldalgenzysten oder auch Kieselalgen. Einzelne Arten dieser Algen haben genau definierte Ansprüche bezüglich Temperatur, Säuregrad, Sauerstoff- oder Nährstoffkonzentration. Findet man also eine bestimmte Kieselalgen- oder Goldalgenzystenart in einer Sedimentschicht, lassen sich Aussagen über die ökologischen Bedingungen jener Zeit machen. Hochgebirgsseen sind für Klimarekonstruktionen besonders geeignet, weil sie von menschlichen Einflüssen weitgehend verschont blieben und somit ein relativ unverfälschtes Bild des Klimas vergangener Zeiten liefern. A :Regime von Schnee und Eis Am Schluss der Wanderung erreichen wir den Boden des Dischmatals mit dem Dischmabach und kommen damit zum letzten noch fehlenden Faktor in der Wasserhaushaltsgleichung, dem Faktor A wie Abflussverhalten. Das Abflussverhalten alpiner Fliessgewässer – das sogenannte Abflussregime – ist massgeblich von der sogenannten Retention geprägt, also vom Zurückhalten von Wasser in Schnee und Gletschereis. Im Winter ist wegen der Schneeakkumulation mit einem sehr geringen Abfluss zu rechnen, im Sommer dominiert erst die Schneeschmelze, dann die Gletscherschmelze das Abflussverhalten. Die am höchsten gelegenen, am stärksten vergletscherten Einzugsgebiete weisen ein glaziales Abflussregime auf: Die höchsten Abflussmengen werden hier in den Monaten Juli und August beobachtet. 90 Prozent des gesamten Abflusses erfolgen von Mai bis September. Beispiele dafür sind der Rosegbach bei Pontresina oder die Massa unterhalb des Grossen Aletschgletschers. Bei unvergletscherten, alpinen Einzugsgebieten spricht man von einem nivalen Abflussregime. Die grössten Monatsabflüsse werden im Mai und im Juni erreicht. Beispiele für diesen Regimetyp sind der Flüelabach oder die Plessur, die bei Chur in den Rhein mündet. Der Dischmabach ist ein Beispiel für die Übergangstypen, die es zwischen glazial und nival gibt. Das Dischmatal ist eines der wenigen hydrologisch praktisch unbeeinflussten alpinen Täler ohne Wasserentnahmen oder Speicherseen und mit nur sehr spärlichen wasserbaulichen Massnahmen. Das heisst: Durch Messung des -Abflusses kann das hydrologische -Ge-schehen im Einzugsgebiet unmittelbar erfasst werden. Das naturnahe Dischmatal dient deshalb in einer Vielzahl von Forschungsarbeiten als repräsentatives alpines Einzugsgebiet, und aufmerksame Wanderer können sich hier selbst ein Bild vom Wirken des Wassers machen. 1 Rolf Weingartner/Daniel Viviroli, Wasserschloss in einer durstigen Welt. Bedeutung der Gebirge für den Wasserhaushalt, in: ALPEN 2/2007, S. 34–37.

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