Wenn Zappelphilippe und Taubstumme klettern lernen
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Wenn Zappelphilippe und Taubstumme klettern lernen

Die mobile Kletterwand des SAC hat im Luzerner Seetal haltgemacht. Das Besondere: Hier kletterten Kinder mit Behinderungen. Ein eindrückliches Erlebnis – auch für Lehrerinnen und Leiter.

Es ist still an diesem Morgen in der Turnhalle. Zwischendurch ertönt ein komischer Laut, der an das Krächzen eines Vogels erinnert. An der mobilen Kletterwand klettern fünf 14-Jährige hoch, gesichert von ihren gleichaltrigen Schulkollegen. Doch man vernimmt keine Kommentare wie «Halt mich», «Kannst mich runterlassen» oder «Wo ist der nächste Griff?». Kommuniziert wird nur über Blickkontakte.

Hier im Heilpädagogischen Zentrum Hohenrain im luzernischen Seetal ist die mobile Kletterwand des SAC für zwei Wochen aufgebaut worden. Es sind keine normalen Schulklassen, die unter der Leitung des J+S-Leiters Hans Gerber Klettern üben. Es sind Kinder und Jugendliche mit einer Behinderung – wie beispielsweise diese Klasse von Taubstummen. Das ist auch für Gerber eine Herausforderung: «Erst muss man sich schon etwas daran gewöhnen», sagt er. Auf Hochdeutsch und mit langsamen, deutlichen Mundbewegungen erklärt er den Ablauf. Den Halbmastwurf zeigt er bildlich vor. Die zehn Jugendlichen sind aufmerksam und machen den Knoten nach. «Die Taubstummen haben eine enorm starke visuelle Wahrnehmung, sie nehmen alles sehr rasch auf», stellt Gerber fest.

Gerade für Jugendliche mit einer Behinderung ist Klettern eine gute Schulung. Davon ist der J+S-Leiter überzeugt. «Defizite wie Gehörlosigkeit sind an der Wand viel weniger relevant.» Werden sie auf dem Pausenhof noch gehänselt, weil sie auf Zurufe nicht reagieren können, tauchen sie beim Klettern in ihre eigene Welt ab. Die Behinderung ist jetzt zweitrangig. «Dadurch lernen sie, sich selbst zu vertrauen», sagt Gerber. Weil sich die Jugendlichen gegenseitig sichern, entstehen auch neue Freundschaften. Sie übernehmen die Verantwortung für ihre Kollegen. Und manchmal werden auch herkömmliche Rollen getauscht: Die Anführer können sich mit dem Fels nicht erwärmen, während eher Schüchterne klettern, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Anscheinend gefällt es den Taubstummen: Mit leuchtenden Augen hängt ein Junge beim Abseilen ins «Gstältli». Die Mundwinkel zu einem Lachen geformt. Hin und wieder ertönt ein verworrener Laut. Sonst herrscht Stille. Auch wenn sie sich nicht mit Worten bedanken können, ist ihre Freude förmlich spürbar. «Manchmal sind eben keine Worte nötig», sagt Gerber lachend.

Am Nachmittag herrscht in der Turnhalle ein total anderes Bild: Der Lärmpegel erreicht den eines Rockkonzerts. Dort schreit ein Kind, hier spielen drei andere wild «Fangis». Andere plappern munter drauflos – alle miteinander, je lauter, desto besser. Diesmal hat es Gerber mit einer Horde Sechsjähriger zu tun. Die meisten sind regelrechte Zappelphilippe. Hyperaktiv. Ihnen fällt es schwer, still zu sitzen, sich zu konzentrieren und neue Dinge aufzunehmen. Lernschwierigkeiten sind die schulische Folge.

Kritisch mustert Gerber die zwölfköpfige Gruppe: «Schade, hat es nicht noch Ältere dabei.» Am liebsten arbeitet er mit gemischten Altersgruppen – so können die Jüngeren von den Älteren lernen und umgekehrt. Auch beim Sichern geht es einfacher, wenn Ältere mit von der Partie sind. Deshalb bindet Gerber die Lehrerinnen, Lehrer und die Sozialpädagogen stärker ein. Als die Knirpse endlich die Klettergurte anziehen können, schäumen sie über vor Freude. «Für Kinder ist es cool, einmal wie richtige Kletterer aussehen zu dürfen», sagt Gerber. Einem Jüngling mit blauen Augen schwatzt es drauflos, er erzählt, wo er überall hinauf will, hüpft ungeduldig, zieht an Gerbers T-Shirt.

Kaum ist er gesichert, wird er etwas ruhiger. Ein wenig linkisch greift er nach dem ersten Griff. Schnell ist er oben am Umlenkpunkt angekommen und grinst stolz von oben herab. «Beim Klettern muss man sich konzentrieren. Das ist eine gute Übung für die Kids», sagt Gerber.

Davon ist man auch im Heilpädagogischen Zentrum überzeugt. Hier werden mehr als 300 Kinder mit Lern- oder Hör- und Sprachbehinderungen betreut. Es ist das zweite Mal, dass die Schule die mobile Kletterwand gebucht hat – heuer sogar für zwei Wochen. «Wir hatten im letzten Jahr so viele positive Rückmeldungen, dass wir aufgestockt haben», sagt Michael Albert, Sozialpädagoge im Zentrum. Die meisten Kinder klettern das erste Mal in ihrem Leben. «Das ist ein Erlebnis. Dadurch kommen sie aus dem Alltag hinaus und können Neues entdecken.» Auch bei den Lehrkräften und Sozialpädagogen zeigen die Lager Wirkung. Sie erhalten neue Inputs: Seit zwei Jahren wird beispielsweise die zum Heim gehörende Aussenkletterwand wieder mehr genutzt.

Derweil haben die Knirpse in der Turnhalle ihre «Gstältli» ausgezogen. Gerber mahnt, dass sie alles schön aufgeräumt hinterlassen sollen. Freudig klatschend verlassen sie die Halle. Das Fazit von Gerber nach dem zweiten Tag mit den Kindern des Zentrums ist positiv: «Eigentlich ist es nicht viel anders als an andern Kursen», und fügt nachdenklich an: «Man muss sie einfach so nehmen, wie sie sind!»

 

 

Die Kletterwand einladen

Seit zwölf Jahren tourt die mobile Kletterwand des SAC durch Schweizer Turnhallen, immer auf Einladung der Schulen. Die Aktion wird von Rivella und Mammut gesponsert. Die Tournee dauert jeweils vom Herbst bis zu den Sommerferien. Mehr Informationen und Buchungen unter www.sac-cas.ch > Jugend oder bei Andrea Fankhauser unter Tel. 031 370 18 30.

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