Brave Mädchen, wilde Jungs?
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Brave Mädchen, wilde Jungs? Im Kinderbergsteigen widerlegen Jugendliche manches Klischee

In den KiBe-Lagern unternehmen Kinder bis ca. 13 Jahre erste Schritte im alpinen Gelände. Gerade in diesem Umfeld, wo es viel um Kraft, aber auch Geschicklichkeit und Teamgeist geht, spielt das geschlechtertypische Verhalten bereits eine grosse Rolle – nur manchmal auf unerwartete Weise.

«Das Lager hat kaum vierundzwanzig Stunden gedauert, und schon war unsere Schokoladenotration aus dem Leiterzimmer verschwunden », erzählt die Lagerleiterin Martina Kündig. « Klar haben wir zuerst die Buben der Gruppe verdächtigt », grinst sie, «doch als wir sahen, wie drei Mädchen verstohlen in die Ecke guckten, war uns sofort klar, dass nur sie es gewesen sein konnten. »

Und so war es dann auch. Martina Kündig erzählt vom letztjährigen KiBe-Lager. Auch dieses Jahr ist sie als Leiterin wieder dabei. « Es ist halt nicht immer so, wie man denkt », schmunzelt auch Anita Kolar. Zusammen mit Martina, Raphael Monstein und Alex Wydler betreut sie die zehnköpfige KiBe-Crew. « Mädchen sind zwar oft ruhiger und etwas überlegter als die Buben, aber das wars dann auch schon », bemerkt sie, « wer denkt, dass die Mädchen immer nur die Braven sind und sich in die Rolle des Schwächeren drängen lassen, der irrt. » Ihr Lachen zeigt, dass sie weiss, wovon sie spricht. Schliesslich war sie erst vor ein paar Jahren selber Teilnehmerin.

Dennoch, die Schokoladegeschichte hat einen wohl typisch weiblichen Ausgang gefunden. « Die Mädchen haben sich wirklich geschämt für ihre Tat und schrieben einen unglaublich ‹herzigen› Entschuldigungsbrief », erzählt Martina weiter und zeigt auf die vermeintlich grösseren Schlitzohren in der Gruppe: « Das würden die Knaben nie tun !»

Mit Nadine ( 12 ) und Michelle ( 14 ) sind es dieses Jahr zwar nur zwei Mädchen, die den Weg in die Cabane de Moiry gefunden haben, dafür ist ihre Rolle in der Gruppe umso wichtiger. Die beiden Mädchen bringen etwas Sozialkompetenz in die Bande. Die Knaben zum Beispiel verlangen eine klare Rangordnung und machen häufig die Schwächeren zum Sündenbock. Die beiden vifen Mädels machen den Jungs aber schnell klar, dass sie ein solches Vorgehen nicht tolerieren, und beziehen klar Partei für die Schwächeren. Mutig, angesichts dessen, dass sie nur zu zweit sind. Die Intervention der Mädchen nützt denn auch, und die Gruppe wächst zusammen, anstatt, wie befürchtet, auseinanderzubrechen. Von Ausgrenzung oder Bosheiten ist sehr bald nichts mehr zu spüren. Mädchen in diesem Alter sind reifer, und ihre Reife ist wichtig für die Gruppe. Sie scheinen die Grenzen besser zu kennen als die Knaben und lassen sich weniger von anderen beeinflussen.

Wie kommen die Mädchen zu dieser respektierten Stellung innerhalb der Gruppe? Ein Grund liegt wohl darin, dass die Mädchen mit den Knaben problemlos mithalten können, ja sogar oftmals ehrgeiziger sind und mehr Geschick an den Tag legen. Dank ihrer erhöhten Kreativität und Konzentration kommen die Mädchen an schwierigen Kletterstellen meist weiter als die ungestüm und kompromissloser agierenden Knaben. Auch auf der Hochtour auf den Pigne de la Lé ( 3396,2 m ) fallen die Mädchen kaum ab von den physisch stärkeren Jungs. Am Anfang der Tour kämpft Nadine zwar noch etwas mit dem happigen Aufstieg, und es kullert ihr die eine und andere Träne über die Wange angesichts der Anstrengung. Aber sie macht auch gleich klar, dass sie « weder Hilfe noch sonst etwas braucht ». Sie will es alleine schaffen, das macht sie allen deutlich! Die Mädchen haben Biss – und das merken die Jungs.

Auch wenn sich die Buben und Mädchen gegenseitig respektieren, angebandelt wird selten. « Sympathien gibt es zwar schon », erzählt Martina, « aber meistens bleibt es dabei. » Aber kaum ausgesprochen, verbreitet sich innerhalb der Gruppe das Gerücht über ein mysteriöses Briefchen. Es soll ein in Gross-buchstaben geschriebenes HDL enthalten und bezüglich Absicht und Zielperson keine Zweifel offenlassen. So wird den Leitern, schon fast triumphierend, von einigen der Jungs berichtet. HDL bedeutet « Ha dich lieb » und ist eine der vielen Abkürzungen, die beim Schreiben von SMS verwendet werden. Wer jetzt denkt, dass dem Autor klar war, was HDL heisst, der sieht sich getäuscht. Aber auch wir Männer können zusammenhalten, und so wurde mir von den Jungs auf die Sprünge geholfen, während die beiden Mädchen und die Leiterinnen eisern schwiegen. Der Angebetete hat nicht auf das Briefchen reagiert. Das mag zwar eine herbe Enttäuschung sein für die Verfasserin der Botschaft, aber keine Überraschung, wenn man Anita hört: «In dieser Beziehung sind die Jungs in demAlter blind, die interessieren sich kaum für die Mädchen, die haben ganz andere Sachen im Kopf.»

«Ein reines Mädchenlager würde ich nicht aushalten, das gäbe bestimmt ein andauerndes Gezicke», glaubt Anita und ist froh, dass die Jungs doch auch etwas Unbeschwertes und Unkompliziertes in die Truppe bringen. Trotzdem, viele der gängigen Klischees sind von den beiden Mädchen in dieser Woche kompromisslos widerlegt worden. Aber siehe da, am letzten Tag, beim Abstieg ins Tal, zeigt sich eines der beiden Mädels mit ein wenig Make-up. Mädchen bleiben Mädchen, hat da wohl der eine oder andere mit leichtemHerzen festgestellt. Aber die Girls – und das wissen jetzt alle – darf man(n) auf keinen Fall unterschätzen. Sonst steht es schlecht um den Schokoladenotpro­viant.

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