Der Faktor «Mensch» im Lawinengelände
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Der Faktor «Mensch» im Lawinengelände Erkennen, was den Kopf bewegt

Jedes Jahr kommen auch erfahrene Bergsportler in Lawinen um. Diese Tatsache wirft die Frage auf, inwieweit auch der Mensch und seine Entscheidungsprozesse am Berg eine Schlüsselrolle spielen. Im Rahmen dieser seit Jahren laufenden Diskussion versuchen Experten nun auch in der Schweizer Ausbildung, dem Faktor « Mensch » mehr Gewicht zu verleihen – was sich in der Praxis als nicht ganz einfach erweist.

Jeden Winter kommen in den Schweizer Alpen im Schnitt 20 Bergsportler in Lawinen ums Leben, und rund weitere 50 Ganzverschüttete werden lebend aus den Schneemassen geborgen.

Sie kommen unter eine Lawine, obwohl ein Grossteil von ihnen über theoretisches Wissen verfügt, wie das Risiko eines Lawinenunglücks zu minimieren ist – oder eben: zu minimieren wäre. Dennoch tappen jährlich Skitourengänger und Freeriderinnen am Berg in die Falle, in zwei Dritteln aller Unglücke bei Lawinenwarnstufe «erheblich» oder «gross». Bei Bedingungen also, die Schneesportler bereits bei der Tourenplanung – zumindest gemäss theoretischem Wissen – aufhorchen lassen sollten.

 

Was also führt zu diesen Unfällen? Diese Frage beantwortet Bruno Hasler, Fachleiter Ausbildung des Schweizer Alpen-Clubs SAC und Bergführer, anhand der «Formel 3x3». Das ist eine in der Schweiz weitverbreitete Entscheidungsstrategie zur Beurteilung des Lawinenrisikos, die die drei Faktoren Gelände, Verhältnisse und Mensch mit einbezieht (siehe auch S. 20). «Gelände und Verhältnisse habe man mittlerweile einigermassen im Griff», so Hasler, den Menschen hingegen «überhaupt nicht».

Dies ändern will seit 2006 das Kern-Ausbildungsteam « Lawinenprävention und Schneesport », bestehend aus Vertretern von 13 Schweizer Organisationen – darunter der SAC, der Schweizer Bergführerverband SBV und das Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF. Nebst anderen Themenkreisen aus dem Bereich der Lawinenausbildung haben sich die Verantwortlichen zum Ziel gesetzt, den Faktor «Mensch» – oder neudeutsch die «Human Factors» – im Kurswesen prioritär zu behandeln.

 

Ein Impuls im Bereich der «Human Factors» kommt dabei vom US-amerika-nischen Lawinenexperten Ian McCammon. Er befasst sich seit mehreren Jahren mit den Entscheiden von Schneesportlern im Lawinengelände und untersuchte dahingehend 700 Lawinenunfälle. Seine Resultate zeigten: Über 73% dieser Unglücke hatten sich in Situationen ereignet, in denen die Verunfallten mögliche Gefahrenzeichen hätten erkennen können, diese aber – trotz theoretischem Wissen – nicht wahrgenommen hatten. Ein Resultat, das McCammon auf eine neue Fährte brachte: Er setzte sich fortan nicht mehr mit der Frage auseinander, ob Bergsportler schlecht ausgebildet oder fahrlässig seien. Vielmehr begann er, sich für die Heuristik der menschlichen Entscheidungsfindung in potenziellem Lawinengelände zu interessieren. Damit also, wie Schneesportler abseits der Pisten aufgrund früherer Erfahrungen vorhandene Muster deuten und unter Zeitdruck zu einem Entscheid gelangen.

 

Anhand dieser Daten arbeitete er typische Konstellationen heraus, in denen die Berggänger einen Fehlentscheid getroffen hatten. Aus diesen wiederum entwickelte er sechs «heuristische Fallen» – Wahrnehmungsfallen, in denen Menschen am Berg zu Fehlentscheiden neigen. Dazu gehören aus seiner Sicht: Vertrautheit mit dem Gebiet, Festlegung auf ein Ziel, Suche nach zwischenmenschlicher Anerkennung, Vertrauen in einen (vermeintlichen) Experten, falsche Sicherheit aufgrund anderer Gruppen am Berg oder Spuren im Schnee sowie die Tatsache einer seltenen Gelegenheit, etwa wenn es darum geht, die erste Spur in einen unbefahrenen Hang zu ziehen.

Angelehnt an McCammons Erkenntnisse begann das Schweizer Kern-Ausbildungsteam in den letzten Jahren, den Faktor Mensch in die Ausbildungspraxis zu integrieren. Ein Unterfangen, das sich jedoch als nicht ganz einfach erwies: Es sei schwierig, diesbezüglich etwas «Griffiges» in die Ausbildung zu bringen, sagt etwa Bruno Hasler; und gar als «sehr komplex» bezeichnet der deutsche Psychologe und Bergführer Jan Mersch die Thematik.

 

Trotz der Komplexität ist sich das Expertenteam aber einig: Schneesportler sollten in der Ausbildung für ihr Entscheidungsverhalten und die damit verbundenen Wahrnehmungsfallen sensibilisiert werden. So widmet sich etwa das schweizweit als Ausbildungsgrundlage anerkannte Faltblatt «Achtung Lawinen!» in einem Abschnitt der Thematik. Und Ausbildner wie auch Auszubildende werden seit Kurzem versuchsweise mit dem Modell des sogenannten «Sechsfarben-Denkens» des englischen Psychologen Edward de Bono geschult.

Es handelt sich um eine Gruppendiskussion, bei der die Teilnehmenden durch verschiedenfarbige Hüte repräsentierte Rollen einnehmen. Jeder Hut entspricht dabei einem Blickwinkel: etwa dem analytischen Denken (Konzentration auf Tatsachen, Anforderungen und darauf, wie man ihnen gerecht werden kann), dem emotionalen Denken (Konzentration auf Gefühle und Meinungen), dem kritischen Denken (Risikobetrachtung, Probleme, Skepsis, Kritik und Mitteilung von Ängsten), dem optimistischen Denken (Best-Case-Szenario), dem kreativen, assoziativen Denken (neue Ideen schaffen, Kreativität) oder dem ordnenden, moderierenden Denken (Überblick über die Prozesse, das «Big Picture»). Ziel der Methode ist ein effizienter Diskurs, der gleichzeitig sämtliche Blickwinkel mit einbezieht. Es ist eine Strategie, die ermöglichen soll, den eigenen Denkweisen – und damit den Entscheidungstendenzen – auf die Spur zu kommen. Nach den ersten Erfahrungen mit diesem Modell zeigen sich die Verantwortlichen zufrieden. Der Ansatz sei «sehr instruktiv», sagt etwa Jürg Schweizer, SLF-Forschungsleiter und Mitglied des Teams. In den Kursen erkannten die Teilnehmenden damit sehr rasch, wie stark Sichtweisen im Lawinengelände aufgrund der eigenen Wahrnehmung differieren könnten.

 

Ein spezifischer «Human Factor», den Experten seit Jahren erörtern, ist jener der Intuition oder umgangssprachlich gesagt: des Bauchgefühls. Von anderen menschlichen Faktoren – wie etwa der Gruppendynamik – unterscheidet sich die Intuition jedoch in mehreren Punkten. Allem voran wird sie klar am heftigsten diskutiert: Inwieweit das Bauchgefühl nämlich als gut oder schlecht zu werten ist, darüber gehen die Expertenmeinungen weit auseinander.

Der Psychologe Jan Mersch geht gemäss einer eigenen wissenschaftlichen Studie davon aus, dass die intuitiven Entscheide sehr erfahrener Berggänger «durchs Band gut» und nicht waghalsiger seien als die Entscheide jener, die sich auf die probabilistische Risikoreduktionsmethode, die eine Prognose über die Wahrscheinlichkeit eines Lawinenabgangs erlaubt, verliessen. Jürg Schweizer betrachtet dies kritischer. Aus seiner Sicht sind intuitive Entscheide «oft gut», versagen aber auch – etwa in jenen Momenten, in denen die betreffende Person in eine von McCammons sechs heuristischen Fallen tappt. Eine Meinung, die der renommierte Schweizer Lawinenexperte Werner Munter teilt: Die Intuition sei eine «unterschätzte Begabung» im Guten wie im Schlechten, ist er überzeugt – sie könne uns zwar «wunderbar aus dem Labyrinth herauslotsen», aber auch «fürchterlich in die Irre führen».

 

Darüber hinaus hat Werner Munter unter dem Schlagwort «Neunerprobe» die Intuition zusammen mit seiner probabilistischen Risikoreduktionsmethode in die von ihm geschaffene «Formel 33» integriert. Wir müssten Gefühl und Kalkül kombinieren, ist er seit Jahren überzeugt, und zwar in der richtigen Reihenfolge. Konkret bedeute dies: Sagt die Intuition Nein, muss dieses Nein akzeptiert werden; sagt sie aber Ja, ist sie in jedem Fall anhand probabilistischer Methoden zu prüfen. Wichtig ist Werner Munter in diesem Zusammenhang die Definition von Intuition: Nicht vom leisen Gefühl rede er, wonach « etwas schiefgehen » könnte. Dies begegne einem schliesslich auf fast jeder Tour in den Bergen. Vielmehr gehe es ihm um eine körperlich manifestierte und wahrnehmbare Angst, sogenannte «somatische Marker» – oder einfacher ausgedrückt den «Klumpen im Bauch». Dieses Körpergefühl betrachte er nicht als «weichen» menschlichen Faktor, sondern als «harten Faktor», der in jedem Fall respektiert werden müsse.

 

Dass schon der einzelne Aspekt der Intuition so schwierig zu definieren ist, zeigt, weshalb bisher der Faktor Mensch als Ganzes nur vage in der Schweizer Lawinenausbildung integriert ist. Man sei sich in den letzten Jahren der Gewichts dieser Thematik zwar bewusst geworden, erklärt Jürg Schweizer. Was die Umsetzung in der Praxis angehe, so stecke man hingegen noch in den Anfängen und konzentriere sich bisher auf die Sensibilisierung von Ausbildnern und Auszubildenden. Und vielleicht wird es im Endeffekt auch immer in der Verantwortung dieser Ausbildner und Auszubildenden bleiben, wie weit sie sich mit dem eignen Verhalten im Lawinengelände auseinandersetzen. Denn, so gibt Psychologe Jan Mersch zu bedenken: «Die Fähigkeit, sich selbst über die Schulter zu blicken, bleibt doch sehr stark auf der Persönlichkeitsebene verankert.» 1

Sechs Wahrnehmungsfallen

Wahrnehmungsfallen, in denen Menschen am Berg zu Fehlentscheiden neigen:

Vertrautheit mit dem GebietFestlegung auf ein ZielSuche nach zwischenmenschlicher AnerkennungVertrauen in einen (vermeintlichen) Expertenfalsche Sicherheit aufgrund anderer Gruppen am BergSpuren im SchneeTatsache einer seltenen Gelegenheit (unverfahrener Hang)

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