Der Mensch im alpinen Raum – ein Kulturakt?
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Der Mensch im alpinen Raum – ein Kulturakt?

Anlässlich der traditionellen Jahresversammlung der Sektions-Kulturbeauftragten schuf Prof. Urs Frauchiger, Musiker und Schriftsteller, mit seinem Referat die Basis für die Workshops zur Kulturarbeit im SAC. Wer Urs Frauchiger kennt, weiss um seine unkonventionellen Ansätze, die zum Denken und zum Widerspruch herausfordern. Hier ein Auszug.

Die übliche Einstiegsfrage «Was ist Kultur?» soll diesmal ersetzt werden durch «Wann ist Kultur?» Kultur ist nicht an Inhalte und Orte gebunden. Sie kann überall - und nirgends - stattfinden. Eine Tonhalle oder ein Theater bieten a priori nicht mehr Gewähr als eine Alpweide oder eine Geröllhalde.

In einer Zeit der Globalisierung, der interaktiven Kommunikationsmittel und der postmodernen Belie-bigkeit werden Gegensatzpaare wie Kultur - Natur, urban - provinziell, städtisch - ländlich zunehmend obsolet, nicht zu reden von qualifizieren - den Gegensatzpaaren wie gesund - krank, unverfälscht - verdorben. Entsprechend verwischen sich auch die sozialen Grenzen: Die so genannte Hochkultur hat ihre treuesten Vertreter eher in den kleinbürgerlichen Schichten (wie z.B. Besucherstatistiken der Opernhäuser zeigen), indes die ehemaligen Bildungsbürger der grossstädtischen Kulturtempel sich eher dem Natürlichen und Elementaren zuwenden - oder dem, was sie dafür halten -, das leicht ins Vulgäre und Brutale kippt.

Ein Zurück zur Natur ist aber nur punktuell möglich, für die Augenblicke einer Bergtour vielleicht. Grundsätzlich kann es nicht darum gehen, die Gegensätze auf den Kopf zu stellen, sondern mit ihrer Ambivalenz und Austauschbarkeit zu leben -und daraus sogar neue Lebensqualität zu gewinnen. Lebensqualität ist nicht ein Zustand, sondern die Erforschung der «Terra incognita» eines lebenswerten Lebens.

Wann ist Kultur? Was geschieht, wenn Natursich in Kultur wandelt -und umgekehrt? In diesem Schnittpunkt liegt, so scheint mir, der Ansatz, aus dem sich die kulturelle Tätigkeit des SAC zu entwickeln hat. Dabei kann er sich auf hervorragende kulturelle Eigenleistungen stützen wie «Gletscherblick 99», «à chacun sa montagne», «Der Berg und die Malerei», die 1997 herausgegebenen «Artistischen Beilagen 1854-1923». Eine Kurskorrektur oder gar -änderung ist keineswegs vonnöten, vielleicht aber eine Erweiterung. Da der Referent aus der Musik und der Literatur stammt, ergibt sich für heute eine gewisse Verlagerung der Schwerpunkte.

Wir alle neigen dazu, die Alpen als etwas Statisches, Unverrückbares, ja  «Ewiges» zu sehen. Die alpenländischen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts, allen voran die Schweiz, hatten ja darauf auch ihren Mythos gebaut. Das hat uns ein wenig den Blick verstellt für die ungeheurliche Dynamik, die in diesen Massiven enthalten ist und die weiter wirkt in den Naturgewalten (deren Walten wir immer gleich als «Katastrophen» begreifen) und in den seelischen Energien, die die Bergwelt befreit, zuweilen auch entfesselt in denen, die sich auf sie einlassen.

Die Musik im Alpenraum ist im Grunde immer Fortsetzung der «Naturmusik» - Wind, Wasser, Steinschlag, Lawinengetöse, Tier- und Naturlaut - mit anderen Mitteln wie dem Jodel, dem Betruf oder dem Einsatz des eigenen Körpers als Perkus- sionsinstrument, dem Peitschenknallen oder dem Alphorn - letzteres vermutlich kein genuines Alpeninstru-ment. All dies ist von bestürzender Aktualität, wenn man bedenkt, dass in Ethno- und Live-Elektronik-Musik-hier nimmt das Sampling sozusagen die Stelle der Naturlaute ein -, Performances und Gruppenimprovisatio-nen uralte alpine Verfahren als Entdeckungen gefeiert werden. Hier öffnet sich dem SAC ein weites Feld, weniger in der Veranstaltung von Rockkonzerten oder Serenaden im Alpenraum als vielmehr durch die Förderung unterschiedlicher Kultur-schaffender, mit diesem Klangraum, diesem archaischen «Alpen-Internet» zu kommunizieren.

Das setzt aber voraus, dass wir unsere Sinne, die in der Reizüberflutung stumpf geworden sind, neu für diese Klangwelt zu sensibilisieren vermögen. Das heisst aber auch Abschied nehmen von der liebgewordenen Idylle. Die Alpen sind erhaben, von unendlicher Schönheit und Grosse, aber sie sind auch chaotisch, unberechenbar, fürchterlich, zuweilen höllisch. Zu fördern ist jede Form der Ganzheit des Alpenerlebnisses - die Kunst der Schönheit und der Wahrheit, denn das eine ohne das andere ist Kitsch. Und dies in der Rezeption wie in der Produktion.

Für die Rezeption könnte ich mir gemeinsame Touren, aber auch mehrtägige Aufenthalte in Zelten oder Hütten denken, wo man mit hörerfahrenen Personen die Alpen nicht nur erhört, sondern auch erfühlt, ertastet, erriecht und ersieht, im weitesten Sinn botanisiert. Daraus ergibt sich fast von selber das Bedürfnis, das Erfahrene auch auszudrücken, wozu sich alle Künste eignen, besonders aber die dynamischen wie Musik, Tanz, Film, Video.

Punkt 5 von Art. 3 «Aufgaben» der Statuten des SAC stipuliert u.a. «Förderung der alpinen Kunst». «Alpine Kunst» weist auf etwas Historisches, das zu der oben angeführten Aktualität in einem gewissen Gegensatz steht und ihre Wahrnehmung hemmen kann. «Förderung» wiederum gilt der Zukunft, die Formulierung enthält also eine Contradictio in adjecto. Zudem ist fraglich, ob es die alpine Kunst je gegeben hat. Mir scheint, der Zweckartikel müsste zwei Aufgaben beinhalten: Einerseits die Bewahrung der traditionellen Kunst im Alpenraum und andererseits die Förderung aller aktuellen Kunst, die sich im Alpenraum fortwährend bildet und durchaus auch so genannt «fremde» Elemente aufnimmt und einschmilzt. Es ist geradezu ein Kennzeichen - ein Beweis für ihre Kraft -, dass die alpenländische Kultur seit jeher sich dem öffnete, was von den Durchziehenden und den Neuzugezogenen mitgebracht wurde. Diesen Aspekt gilt es besonders zu betonen, denn Kultur im Alpenraum ist nicht etwas hermetisch Geschlossenes, der bösen Aussenwelt Verborgenes und Nachhinkendes, sondern im Gegenteil etwas Offenes und Mutiges, Risiko-bereites - ein Gegenentwurf zu der verzagten, auf Sicherheit und Versicherung beruhenden Mentalität in den Niederungen.

Im Alpenraum ist das eigene Erleben, der gelebte Augenblick wichtiger als das bleibende, stapelbare Produkt. Tradition und Identität, das Bewusstsein einer Heimat, wachsen nicht so sehr aus Sachen wie aus den Augenblicken gemeinsamer Begeisterung und Intensität. Die Alpen sind nicht zu Ende entdeckt! Die Entdeckungen haben sich nur vom Geo-grafischen, Tektonischen und Karto-grafischen in die Seelenlandschaften verlagert. Wer die Alpen entdeckt, entdeckt nicht zuletzt sich selber.

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