Mit Mustern den Einzelhang gezielter beurteilen
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Mit Mustern den Einzelhang gezielter beurteilen Den Blick für typische Lawinenursachen schärfen

Kürzlich ist das beliebte Merkblatt «Achtung Lawinen!» in einer überarbeiteten Fassung erschienen. Darin wird eine Anpassung der bisherigen Entscheidungsstrategie am Einzelhang empfohlen.

Seit Jahren veröffentlichen die massgeblichen Organisationen (1), die im Bereich der Lawinenprävention tätig sind, ein Merkblatt namens «Achtung Lawinen!». Das Faltblatt, das in jede Hosentasche passt, richtet sich an alle selbstständigen Tourengeher und vermittelt in knapper Form eine Fülle von Informationen zum Thema Lawinengefahr. Daneben dient es als Grundlage für Ausbildungskurse auf allen Stufen, vom Anfänger bis zum Bergführer. Man darf also durchaus von einer offiziellen Lehrmeinung in der Schweiz sprechen. Rechtzeitig auf den Winter 2009/10 ist die Publikation nun in einer sechsten, vollständig überarbeiteten Version erschienen. Nebst der Neugestaltung fallen einige inhaltliche Neuerungen auf. Die wichtigsten Anpassungen betreffen die Entscheidungsfindung im Gelände und die empfohlenen Strategien zur konkreten Risikoreduktion.

Im Mittelpunkt des neuen «Achtung Lawinen!» findet sich, deutlicher als früher, das von Werner Munter entwickelte, altbewährte Beurteilungsraster 3x3. Die Zahlenformel steht für die drei zentralen Kategorien Verhältnisse, Gelände und Mensch und die drei geografischen Ebenen Planung (meist zu Hause, also noch ohne Einblick in die Skitourenregion), vor Ort (sobald man sich im Tourengebiet befindet) und Einzelhang. Auf jeder dieser drei geografischen Ebenen müssen nebst den allgemeinen Einschätzungen auch klare Ja/Nein-Entscheide gefällt werden. In älteren Ausgaben des Merkblatts stand bei diesen Entscheidungen die grafische Reduktionsmethode (vgl. Grafik links ) im Vordergrund – eine von Munters Reduktionsmethode abgeleitete Darstellung des zulässigen Risikos in Abhängigkeit von Gefahrenstufe und Hangneigung. Im orange eingefärbten, heiklen Bereich der GRM ( «erhöhtes Risiko» ) half ein Katalog von günstigen und ungünstigen Faktoren – wie «häufig befahrener Hang» oder Wummgeräusche –, die Situation besser abzuwägen und die Entscheidungsfindung in Richtung Ja oder Nein zu lenken.

Die wichtigste Änderung setzt genau bei diesen Faktoren an. Vier davon sind aus dem Katalog herausgepickt worden, heissen neu Muster und erhalten einen höheren Stellenwert. Konkret sind dies die vier typischen Lawinenursachen Neuschnee, Triebschnee, Nassschnee und Altschnee. Gemäss neuer Lehrmeinung sollen diese Muster bei der Entscheidungsfindung parallel zur GRM berücksichtigt werden – allerdings je nach 3x3-Ebene mit unterschiedlicher Gewichtung: Die Tourenplanung stützt sich weiterhin stark auf die GRM, bei der Beurteilung vor Ort sind beide Verfahren gleichberechtigt anzuwenden, und am Einzelhang soll die Erkennung der Muster im Vordergrund stehen. «Das kommt unserem Hang zum Denken in Mustern entgegen», erklärt Bergführer Stephan Harvey, der als SLF-Lawinenspezialist federführend an der Ausarbeitung des Merkblatts beteiligt war. Das SLF unterstützt die Suche nach Mustern im Gelände auch durch entsprechende Hinweise in Lawinenbulletins, indem es wann immer möglich die Hauptursache der aktuellen Lawinengefahr benennt und so die Aufmerksamkeit in die richtige Richtung lenkt. So heisst es zum Beispiel: «Frische Triebschneeansammlungen sollten vorsichtig beurteilt werden.» Am Fuss eines kritischen Hangs kann die Konzentration auf bestimmte Muster helfen, diese rechtzeitig zu erkennen. Steht zum Beispiel Triebschnee als Gefahrenquelle im Vordergrund, wird man sich während der Tour vermehrt fragen, wo dieser liegen könnte – und entsprechend handeln, also die Triebschneetaschen mittels geschickter Routenwahl umgehen. Die Muster wären damit auch eine Brücke vom Lawinenbulletin zum Einzelhang. Sie sind laut Harvey auch eine gute Ergänzung zur Reduktionsmethode, die vor allem bei der Beurteilung eines Einzelhangs in gewissen Situationen an Grenzen stosse. Der SLF-Experte sieht darin keinen Paradigmenwechsel gegenüber der bisherigen Lehrmeinung, sondern eher eine Erweiterung und eine Anpassung an die Praxis. In der Schweiz wird nämlich bereits seit zwei Jahren nach dem neuen Verfahren ausgebildet. Allerdings räumt er ein, dass das Denken in Mustern eine eigenständige Beobachtung und Interpretation im Gelände verlange und dass Einsteigerinnen und Einsteiger damit stark gefordert sein können. Deshalb empfiehlt das Merkblatt Anfängern, bei der GRM zu bleiben und deren grünen Bereich nicht zu verlassen. Bruno Hasler, Bergführer und Fachleiter Ausbildung im SAC, erhofft sich von der «verfeinerten» Methode jedenfalls qualitativ bessere Entscheidungen im Einzelfall.

Gemäss einer Schätzung des SLF verteilen sich die Lawinenunfälle zu je knapp einem Drittel auf die Muster Neuschnee, Triebschnee und Altschnee, während Nassschnee für 10% der Unfälle verantwortlich ist. Neu- und Triebschnee kommen dabei oft in Kombination vor. Nicht alle Muster lassen sich vor Ort allerdings gleich gut erkennen: Insbesondere Altschneesituationen – damit sind Situationen mit schwachem Schneedeckenaufbau gemeint – können sehr tückisch und selbst für Experten schwierig einzuschätzen sein. Das wird im neuen Merkblatt auch nicht schöngeredet: Als einziges erkennbares Anzeichen für dieses Muster gelten die sogenannten «Alarmzeichen» ( v.a. Wummgeräusche ), und im Weiteren wird die Nützlichkeit von einfachen Schneedeckentests und von Hinweisen im Lawinenbulletin erwähnt. Verglichen mit der Devise «Denken statt schaufeln» von Lawinenpapst Werner Munter, die heute weltweit Anerkennung findet, scheint die verfeinerte Methode eine gewisse Wende darzustellen. Ist nun also wieder vor dem Betreten jedes Hanges Schaufeln angesagt? Bruno Hasler vom SAC relativiert: «Wir wollen die Schneedecke beim Einzelhangentscheid nicht überbewerten, aber doch mitbewerten.»

Mit der Erweiterung der 3x3-Methode und der grafischen Reduktionsmethode um den Fokus auf typische Muster beschreiten die Spezialisten teilweise neue Wege in der Lawinenausbildung. Sie stellen sich damit ein bisschen gegen den Trend der letzten Jahre zur Vereinfachung und Standardisierung der Entscheidungsfindung. Kein Zweifel, das revidierte Konzept wird nicht nur das Auge für bestimmte Gefahrensituationen schärfen, sondern auch Fragen aufwerfen und zu angeregten Diskussionen führen. Aber das ist wohl das Beste, was einem neuen Ansatz im Bereich der Risikoreduktion widerfahren kann: dass sich möglichst viele Tourengänger ihre Gedanken darüber machen – und dabei hoffentlich auch ihre eigenen Entscheidungsprozesse unter die Lupe nehmen.

(1) Kern-Ausbildungsteam « Lawinenprävention Schneesport » besteht aus: Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF, Schweizer Alpenclub SAC, Bundesamt für Sport BASPO, Schweizer Bergführerverband SBV, Schweizer Armee, Schweizer Skiverband, Swiss Snowsports, Verband Bergsportschulen Schweiz VBS, Seilbahnen Schweiz, Naturfreunde Schweiz, Alpine Rettung Schweiz, Beratungsstelle für Unfallverhütung bfu, Schweizerische Versicherungsanstalt SUVA. Mit Unterstützung von: MeteoSchweiz, Schweizerische Kommission für Unfallverhütung auf Schneesportabfahrten, Schweizerische Rettungsflugwacht REGA, Schweizerische Stiftung für alpine Forschung SSAF, Kantonale Walliser Rettungsorganisation KWRO.

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