Tragödie an der Annapurna
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Tragödie an der Annapurna Ein Gespräch mit Ueli Steck

Drei Wochen nach den Ereignissen an der Annapurna im Mai (vgl. vorangehenden Bericht) sassen wir mit Ueli Steck im Vorgarten seiner Wohnung im bernischen Ringgenberg. Der Spitzenalpinist erklärte, wie es zum Rettungsversuch kam und warum sich seine Einstellung zum Höhenalpinismus dennoch nicht geändert hat.

Ueli Steck: « Wir waren die einzigen Bergsteiger weit und breit, die ihnen helfen konnten. Von ihrem Bergsteigerteam waren einige schon abgereist, und ihr stärkster Mann, der Russe Alexey Bolotov, stand um diese Zeit gerade auf dem 8091 Meter hohen Gipfel der Annapurna. »

« Sie konnten nicht mehr und hofften, dass wir ihnen schnell Medikamente gegen Höhenkrankheit bringen könnten und dann alles wieder gut sei. »

« Nein. Auch wenn Alexey einer der momentan stärksten Höhenbergsteiger ist, war er nach dem Gipfel, nach tagelanger Schwerstarbeit an der 8000-Meter-Grenze, ausgebrannt. Später, als Alexey zu den beiden stiess, überzeugten wir ihn über Funk, dass er weiter absteigen muss. Drei erschöpfte Bergsteiger hätten die Situation dort oben nur noch verschlimmert. »

 

Aber auch Simon und Ueli haben ein Handicap: Ihr höhentaugliches Material liegt bereits am Einstieg der Annapurna-Südwand deponiert. Für den Rettungseinsatz müssen leichte Bergschuhe, dünne Fleecehandschuhe und selbst geknüpfte Klettergurte genügen. Auch im Gepäck sind Ampullen mit Dexamethason, einem blutverdünnenden Medikament gegen das Höhenlungenödem. In einer Parforceleistung spuren die Schweizer durch brust tiefen Neuschnee und frieren furchtbar in ihrer leichten Bekleidung. Ein kurzes Biwak und eineinhalb Tage später erreichen sie das Lager III auf 6800 Meter. Sie treffen auf Alexey. Geis-tesgegenwärtig realisiert Ueli, dass sie die gleiche Schuhgrösse haben. Die Ausrüstung wird getauscht. Später in der Nacht eine böse Überraschung: Simon muss erbrechen. Obwohl er sich am nächsten Morgen wieder ziemlich fit fühlt, bleibt er vorsichtshalber und wegen seiner ungeeigneten Ausrüstung im Lager III zurück.

« Es war ein harter Entscheid. Aber in so grosser Höhe muss man konsequent handeln. Die kleinsten Zeichen entscheiden über Erfolg und Misserfolg, über Leben und Tod. Es sind mir Beispiele bekannt, in denen Bergsteiger Stunden nach einem kleinen Anfall von Höhenkrankheit plötzlich tödlich geschwächt sitzen blieben. Wir beide sind sehr schnell aufgestiegen. Die Chance, dass es uns erwischt, war gross. Ausserdem steckten Simons Füsse immer noch in den Leichtbergschuhen. Im Nachhinein war es gut, dass Simon zurückblieb. So wusste ich, während ich um Iñakis Leben kämpfte, dass sich dort unten auch noch jemand für meine Sicherheit einsetzt. »

« Auch Horia litt unter der Höhe. Über Funk bat ich ihn, ob er mir entgegenkommt und mir so den letzten Teil Spurarbeit abnimmt. Zu seinem Glück ging er darauf ein. Als wir uns trafen, verabreichte ich ihm Dexamethason, Koffeintabletten und einen Energieriegel. Der Inhalt dieser Medikamente entspricht in etwa 24 Tassen Kaffee und brachte Horia wieder auf die Beine. Er realisierte, dass ein erneuter Aufstieg ihn ins Verderben führen würde. Alleine, im steten Funkkontakt zu mir, stieg er zu Simon ins Lager III ab. Ein Leben war gerettet. »

« Das weiss ich auch nicht. In dieser höhenexponierten Route müsste das eine selbstverständliche Vorkehrung sein. »

Beim Basken angekommen, erwartet Ueli ein schreckliches Bild. Der Mann liegt im winzigen Zelt inmitten von Erbrochenem und Schnee. Der Schweizer verabreicht ihm die Spritzen mit dem Blutverdünnungsmedikament, versucht ihn mit Tee und Energieriegel aufzupäppeln. Doch der Zustand verschlechtert sich. Iñaki erbricht immer wieder und verliert das Bewusstsein. Ueli reanimiert ihn zweimal. Dann, 20 bange Stunden später, ist es vorbei – kein Puls, keine Atmung.

« Es war brutal. Traurig dachte ich über ein gemeinsames Nachtessen im Basislager nach. Wir diskutierten über die Ethik beim Himalaya-Bergsteigen, über Fixseile, künstlichen Sauerstoff. Jetzt lag er tot neben mir. Ich dachte: Was sollen solche beschissenen Diskussionen? Soll doch jeder auf die Berge steigen, wie er es für gut hält. Am Schluss ist der Stil irrelevant, am Schluss sind wir alle gleich weit. Nie werde ich vergessen, wie ich den unendlich schweren Leichnam aus dem Zelt ziehen und in einer Spalte bestatten musste

« Als Iñaki nicht mehr da war, konnte ich einen inneren Schalter umlegen. Denn jetzt zählte nur noch mein Leben. Ich versuchte zu schlafen und plante dann über Funk zusammen mit Simon meinen Abstieg. »

Unterdessen hat ein Sturm eingesetzt, es schneit. Der Abstieg ist für Ueli Steck eine Grenzerfahrung. Es quälen ihn Hunger und Durst. Er ertappt sich dabei, wie er sich darüber aufregt, seinen einzigen Energieriegel dem Rumänen gegeben zu haben. Mithilfe des GPS findet er durch den Nebel. In den bis zu 40 Grad steilen Flanken drohen Schneebretter. Im Lager III die Erlösung: Zwei zur Rettung aus Kathmandu eingeflogene Bergsteiger empfangen und trösten ihn.

« Um dem Medienrummel auszuweichen, bin ich kurz nach Ankunft gleich zu meiner Freundin nach Spanien weitergereist. Sie studiert gerade in Granada. Mit ihr habe ich viel darüber gesprochen. Mit gezielter Pressearbeit konnte ich einiges richtigstellen. Ich verstehe das Interesse an dieser Geschichte, aber es frustriert mich, dass man sich nicht auch ein bisschen für unsere alpinistische Leistung, die Erstbegehung der Tengkampoche-Nordwand interessiert. »

« Was am Everest geschieht, hat nicht mehr viel mit Bergsteigen zu tun. 90% der Bergsteiger sind dort konstant überfordert. Eine Hilfeleistung von ihnen zu erwarten, ist illusorisch. Frustriert bin ich aber in Bezug auf unser Himalaya-Abenteuer, weil nur die Sensation, die Tragödie interessiert. Der Entscheid zu diesem Rettungseinsatz war aber nichts anderes als gesunder Menschenverstand. Klar wird es mich irgendwann furchtbar plagen, dass ich die Südwand wieder nicht klettern konnte. Aber stell dir vor, du hast die Wand trotzdem gemacht und nebenan stirbt ein Kollege. Das möchte ich niemals erleben !»

« Die Erstbegehung dieser Wand mit über 2000 Höhenmeter zeigt, dass nicht alle am Everest herumstehen! Bereits im zweiten Versuch kletterten wir in vier Tagen durch die fantastische, senkrechte Fels- und Eiswand. Sechs Jahre lang wurde die Nordwand immer wieder von Weltklassebergsteigern versucht. Uns gelang die Route im perfekten Alpinstil. Wir benutzten weder Hochlager, Fixseile noch Bohrhaken. Mit einem Superpartner wie Simon eine solche Hammerroute zu klettern, das « fägt »! Bergsteigerisch ist darum unsere Expedition auch ohne Annapurna ein Erfolg. »

« Nein, die Einstellung zum Bergsteigen hat sich bei mir nicht geändert. Der Gefahr, der wir uns aussetzten, war ich mir immer bewusst. Ich wusste und weiss, dass Selbstüberschätzung die Grenze ist vom leistungsorientierten Bergsteigen zum Leichtsinn. »

« Die Südwand bleibt mein grosses Projekt. Das gebe ich nicht auf. Aber es wird eine Weile dauern, bis ich wieder genügend Energie dafür mobilisieren kann .»

Rettungsversuch

Ueli Steck und Simon Anthamatten gaben ihr eigenes Projekt an der Annapurna-Südwand zugunsten des Rettungsversuches auf: Statt auf der Route 1 eilten sie auf der Route 2 dem schwerkranken Spanier zu Hilfe.

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