Traumwelt Cerro Torre
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Traumwelt Cerro Torre Bilder aus der winterlichen Westwand

Nüchtern gesehen ist der Cerro Torre nichts anderes 38 als ein 3128 m hoher schlanker, steiler und mit einer gehörigen Portion Eis überzogener Granitobelisk, der in einer der wildesten Ecken dieses Planeten steht: in Patagonien. Das heisst in den südlichen Patagonischen Anden, die sich über eine Länge von 700 km am untersten Zipfel von Südamerika, zwischen den Ländern Chile und Argentinien, erstrecken.

«Was er mir bedeutet? - Alles, abgesehen von der Familie! Das Bergsteigen sagte mir lange Zeit nichts mehr, aber der Cerro Torre war dennoch jeden Tag präsent. Die an seinen Wänden erlebten Abenteuer haben mich geprägt. Woher diese Anziehungskraft kommt, kann ich nicht genau sagen. Die Faszination der Kletterei vermischt sich mit der Geschichte, der Ausstrahlung und dem Aussehen dieses Berges.» Das sagt Thomas Ulrich, 32, dem vor einem Jahr zusammen mit den drei Freunden Stefan Siegrist, David Fasel und Greg Crouch die erste Winterbegehung der Weslwand des Cerro Torre gelang. Und damit die zweite Winterbesteigung dieses Berges überhaupt, der seinen Mythos nicht nur der Lage am Rand des patagonischen Eises verdankt, sondern auch der dramatischen, bis heute nicht restlos geklärten Geschichte seiner Erstbesteigung.

Im patagonischen Sommer 1957/58 - der Wintersaison der Nordhalbkugel - versuchten zwei sich konkurrierende italienische Expeditionen, den Gipfel erstmals zu besteigen. Das Trentiner Team auf der Ostseite des Berges beurteilte ihn als unbezwingbar. Doch der führende Kletterer dieser Gruppe, Cesare Maestri, war am Ende der Reise vom Cerro-Torre-Virus infiziert: «Ich muss wiederkommen. Und ich werde wiederkommen.» Die Konkurrenten, darunter Walter Bonatti und Carlo Mauri, wichen auf die Westseite aus und gelangten bis 120 Meter über einen Sattel auf der Südwestschulter, den sie «Colle della Speranza» (Sattel der Hoffnung) nannten. Auch sie verliessen den Berg in der Hoffnung wiederzukommen, und zwar schon im nächsten Jahr.

Doch der Gipfelerfolg war Cesare Maestri in Begleitung des Österreichers Toni Egger vorbehalten. Im Januar 1959 stiegen die beiden hervorragenden Alpinisten von Osten zum «Sattel der Eroberung» auf und von dort weiter über den Nordostgrat beziehungsweise die Nordwand. Laut den Schilderungen Maestris ermöglichte eine dünne Eisschicht die Bewältigung der senkrechten und glatten Felsplatten, die normalerweise unmöglich oder nur mit extremen technischen und damit zeitaufwändigen Mitteln begehbar gewesen wären. Auf den schnellen, vom Glück begleiteten Aufstieg folgte das Desaster beim Abstieg: Beim Abseilen wurden die Kletterer von einer Eislawine, die Egger in den Tod riss, überrascht. Maestri kämpfte sich hinunter und überlebte dank der Hilfe der Kameraden im Basislager. Den Tod Eggers hat er bis heute nicht verwunden: «Mehr als 35 Jahre sind vergangen, doch seit damals ist mir ein tiefes Gefühl von Einsamkeit geblieben, das mein Leben vergiftet.»

Ende der Sechzigerjahre folgten vergebliche Versuche verschiedener Bergsteiger über den Ostgrat und die Westwand. Mit jedem Scheitern wuchs die Aura des Cerro Torre - und damit der Mythos. Gleichzeitig wurde der Erfolg von Maestri/Egger in Bergsteigerkreisen immer häufiger in Zweifel gezogen. Angestachelt von den Polemiken und Feindseligkeiten kehrt Maestri 1970 an den Berg zurück. Die Besteigung gelang ihm erneut, allerdings merkwürdigerweise über eine gänzlich andere Route und nur dank des Einsatzes einer riesigen Bohrmaschine, mit der er eine Bohrhakenreihe in den unberührten Granit trieb und damit seinem Anstieg - der «Kompressorroute» - den Stempel aufdrückte. Statt mit dem neuerlichen Erfolg den endgültigen Beweis für seine Erstbesteigung zu liefern, zerstörte Maestri mit der umstrittenen Aktion seinen Ruf als Kletterer und Hess die Stimmen der Zweifler lauter werden. Heute meint der Siebzigjährige zum Thema Cerro Torre: «Wenn ich in meinem Leben etwas noch einmal machen könnte, dann dies: Ich würde nicht mehr hinfahren. Am Cerro Torre habe ich zweimal mein Leben riskiert. Welche Dummheit!» Der Cerro Torre, der sein Leben, seine Gedanken, seine Träume während Jahren beherrschte, hat in dem stolzen Mann grosse Verbitterung hinterlassen.

Thomas Ulrich, der den Gipfel vor ein paar Jahren zusammen mit Stefan Siegrist bereits einmal im Sommer über die Kompressorroute bestiegen hat, interessiert sich nicht für die Polemiken - aber er möchte gern einmal schauen gehen, «wo Maestri und Egger 1958 hochstiegen. Ich denke, sie waren oben, denn sie gingen auf Leben oder Tod und waren so kaltblütig unterwegs, wie wir es heule nicht mehr können. Ausserdem finde ich die Aussagen späterer Bergsteiger unfair: Man kann doch nicht einfach auf Grund seines eigenen Scheiterns lolgern, dass Maestri und Egger nicht oben waren!» Er schliesst sich der Ansicht von Casimiro Ferrari an, dass man grundsätzlich - bevor es keine Gegenbeweise gibt - den Aussagen eines Bergsteigers vertraut. Denn - «wo kommen wir hin, wenn wir alles zu hinterfragen beginnen?»

Ohne grosses Aufsehen oder zweifelnde Stimmen zu erregen, glückte 1974 einer zwölfköpfigen Expedition der «Ragni», der Kletter-«Spinnen » von Lecco, unter der Leitung des eben erwähnten Casimiro Ferrari die Durchsteigung der Westwand. Auch Ferrari gehört zu den Patagonien-Besessenen — das weite Land nahm ihn so gefangen, dass er dorthin auswanderte. Thomas Ulrich versteht den Italiener, den er auf seiner Estancia in Patagonien besucht hat: « Auch wenn sich Patagonien in den letzten Jahren verändert hat, könnte ich mir vorstellen, dort zu wohnen. Der ganze Zivilisationskram ist noch nicht so wichtig, alles ist ursprünglicher. » Fünfmal ist er bisher nach Palagonien gereist, eine der Reisen waren die Flitterwochen mit seiner Frau Âasta, die anderen vier galten - dem Cerro Torre. «Schon als ich das erste Mal in Patagonien, am Fitz Roy, unterwegs war, blickte ich aus der Argentinierroute ständig hinüber auf den Cerro Torre. Mir war klar: Das ist mein Berg.» Da ihn keine bergsteigerische Herausforderung stärker und auch das Entdecken von neuen Gebieten nicht besonders reizen, fährt er immer wieder dorthin zurück. Denn auch mit der Besteigung der Westwand hat Thomi seine Cerro-Torre-Träume nicht ausgeträumt!

Die Westwand des Cerro Torre im Winter angehen bedeutet nicht nur, sich einer grossen körperlichen Herausforderung zu stellen. Den Alpinisten erwarten neben relativ wenig Felskletterei heikles kombiniertes Gelände und knifflige Stellen im Eis, das bis zu 90 Grad steil sein kann. Und Eis heisst in Patagonien nicht einfach klares, hartes, gefrorenes Wasser, sondern regelrechte Pilze aus Reifeis. Dieses entsteht beim Aufprallen der feuchten, stürmischen Luftmassen auf die Flanken der Berge. Die dabei gebildeten gigantischen Raureifklumpen gleichen in ihrer Konsistenz der Eiskruste im lange nicht abgetauten Tiefkühlfach. Und wer schon einmal versucht hat, im Gefrierfach mit zwei Eisgeräten an dieser zerbrechlichen Masse Halt zu finden, kann sich vorstellen, wie heikel das Bergsteigen in Patagonien sein muss! Dazu kommt die harte psychische Belastung einer Klettertour am Cerro Torre im Winter und an der Westwand, wo man «im Vergleich zum Sportklettern in der Ostwand ernsthaften Alpinismus betreibt», wie Thomas Ulrich bemerkt: keine anderen Bergsteiger weit und breit, keine Einheimischen, eine winzige Hütte, in der man einen Sturm aussitzen kann, den Blick auf eine zwar wunderschöne, aber eiskalte und in schlechten Augenblicken gewiss trostlose Gletscherwelt: das Patagonische Inlandeis.

Dennoch - das vierköpfige Team meisterte die Herausforderung bravourös und stand schon beim zweiten Versuch als geschlossene Formation auf dem mythischen Gipfel: Greg Crouch, Patagonien-veteran, amerikanischer Journalist mit gewissen Verständigungsproblemen angesichts der schweizerdeutschen Übermacht im Team; David Fasel, humorvoller Freiburger, Bergführer, seit Monaten in den USA kletternd unterwegs und immer mal für eine harte Seillänge oder einen trockenen Witz gut; Stefan Siegrist, Profi-Alpinist und seit vergangenem Jahr «Fernsehstar», für den die Eiger-Nordwand im Sommer und Winter zum Alltagsbrot gehört; Thomas Ulrich, zweifacher Familienvater und Outdoor-Fotograf für Extremes. Er war die treibende Kraft hinter dem Projekt, auch in schwierigen Situationen beseelt vom Wunsch, die Geschichte zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen. Schliesslich hoffte er, sich damit einen Platz im weltweit millionenfach verkauften, renommierten Reportagemagazin National Geographie zu sichern. Und das hat er zusammen mit seinen Freunden tatsächlich geschafft. 1

Zu einem solchen Erfolg tragen Wille, Ehrgeiz und klettertechnische Fähigkeiten nur einen Teil bei. Gespür, Instinkt für den Berg und das richtige Vorgehen, Teamarbeit und die Fähigkeit, auch aufreibende zwischenmenschliche Spannungen abzubauen, sind gerade an einem Ort, wo das Bergsteigen so unberechenbar ist wie in Patagonien, mindestens so wichtig. Dass Thomas Ulrich dabei neben dem Bergsteigen den Job des Fotografen ausübt, ist für ihn normal. Der kommerzielle Aspekt einer solchen Reise ist es, der die lange Abwesenheit von der Familie für ihn moralisch vertretbar macht. Eine banale Rechtfertigung? «Nein», meint Thomi, «für mich ist es wirklich so, dass ich dort meiner Berufsarbeit nachgehe. Eine normale Nullachtfünfzehn-Arbeit wäre für mich nicht denkbar, ich würde dabei zu Grunde gehen. Deshalb suche ich mir Ziele aus, die mich ästhetisch ansprechen, bei denen ich mich und meine Fähigkeiten voll einbringen kann und die mir persönlich etwas bringen.»

In diesem Zusammenhang spricht der Berner Oberländer einen wichtigen Aspekt an, der ihn in seinem Alltag dauernd beschäftigt. Ihn reizt nicht die Höchstleistung, das Wiedergeben von sportlich noch nie Dagewesenem, bei dem nur die Zahlen zählen. Vielmehr will er seine Kreativität in schöne Bilder legen, Emotionen, Erlebnisse, Sinnliches ansprechen und weitergeben. Menschen sollten wieder lernen, unbelastet in die alpinistisch-sportliche Landschaft hinauszuschauen und zu überlegen, was für sie ganz persönlich wichtig ist und stimmt. Ziele angehen, bei denen sie mit Herz und Seele dabei sind.

So gesehen ist eine Cerro-Torre-Besteigung auch ein Ausflug in eine andere Welt: In die Welt der unbeschwerten Träume, wo man menschlicher miteinander umgeht als im Alltag. In die Welt der Freudensprünge, wenn nach dem Gipfel die ganze Belastung abfällt und das Leben zur prallen, schillernden Seifenblase wird, die fröhlich aufsteigt, bis sie vergeht. Ein Moment der Freude und des Vergnügens, verbunden mit Erinnerungen an die harten Strapazen, an die Schinderei während des zehntägigen Anmarsches über Moränen, Eis und Schnee und die Plackerei während des Aufstiegs. Bilder, die einem im Alltag über Durststrecken weiterhelfen. Und echte Glücksmomente, in denen sportliche Leistungen völlig zweitrangig sind.

«Hast du keine gescheiteren Fragen?», ruft Thomi lachend, als ich ihn frage, wann sie auf dem Gipfel des Cerro Torre standen. Und er muss Stefan Siegrist anrufen, um zu erfahren, dass es der 14. Juli 1999 war. Völlig unwichtig dieses Datum; wichtig ist nur, dass vier Freunde einen grossen Traum hatten, auszogen, ihn verwirklichten und mit funkelnden Augen und immer noch als Freunde zurückkehrten - im Gepäck 120 belichtete Filme, deren Bilder die Faszination weitergeben an uns, die wir von bescheideneren, aber genauso wichtigen oder unwichtigen Zielen träumen.

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