Übers Fenêtre des Ecouvets
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Übers Fenêtre des Ecouvets Geschichte einer Wanderung

Toinon erholte sich gerade von einer Behandlung gegen ihre Epilepsieanfälle und hatte Lust auf Höhenluft. Ganz unbescheiden, wünschte sie sich nichts weniger als den einen, wilden Pfad. Erst recht, weil ein befreundetes Ehepaar von uns, Gisèle und Marc, schon lange ein Auge auf dieselbe Tour geworfen hatte, von der es sich atemberaubende Fotos versprach.

Die Tour: eine beeindruckende Felsbarriere, die Saint-Martin de Luce und Bourvallon voneinander trennt. Nur zu überwinden durch einen schmalen Pass, eine Scharte im Fels, das Fenêtre des Ecouvets. Die Überschreitung ist auf beiden Seiten derart steil und chao­tisch, dass sie nur ganz selten begangen wird. Nicht zuletzt, weil man – endlich am Ziel angelangt – vor dem Problem steht, denselben Weg zurückkehren oder die Barriere mühsam umrunden zu müssen.

Die Lösung lag auf der Hand: Jedes Paar geht den Pass von je einer der beiden Seiten an und parkiert ein Auto am Ausgangspunkt. Wer wo aufbricht, wurde dem Zufall in Form eines Würfels überlassen. Der entschied, dass es für uns Saint-Martin war. Wir packten den gut abgemessenen Proviant in ­einen Rucksack und schritten zur Attacke.

Der Ausflug nahm Formen einer Grillparty an: Wir fühlten uns wie auf einem Steingrill. Erbarmungslos brannte die Sonne auf uns herab, und unsere Kehlen waren so trocken, dass wir bei ­einem Zusammenbruch nicht einmal mehr hätten röcheln können. Zum Teufel auch! Tropfenweise liessen wir dem Mund Wasser zukommen, sonst wäre die Flasche wohl in einem Rutsch durch die Gurgel geflossen. Zwei Gämsen jagten auf einem Band über unseren Köpfen hintereinander her. Deren Steinhagel fachte unseren Ärger weiter an.

Bei einer einfachen Felspassage, die wegen der Hitze rutschig geworden war, half ich kräftig nach. Ich schob Toinon am Hintern, damit sie nicht abrutschte und die Stelle überwinden konnte. Die Geste der reinen Selbstlosigkeit brachte mir eine Ohrfeige ein. Hallo Stimmung!

Im Morgengrauen aufgebrochen, war es schon fast Mittag, bis wir unsere Freunde auf dem Pass antrafen. Gisèle heulte, denn der Fotoapparat war ihr aus der Hand geglitten und auf einem Felsblock zerschellt. Marc war schwindlig von der Höhe, und er kam fast auf allen Vieren daher, aus Angst zu stürzen. Er hatte eine Pfeife geraucht, während er auf uns wartete, und der Tabak hatte ihm über die Übelkeit hinweggeholfen. Eine Übelkeit, die man erlebt, wenn man ungeniessbare Pilze gegessen hat. Nicht lustig! Erschöpfung, Ärger und Unwohlsein machten sich Luft durch Heulen, Schimpfwörter und Flüche.

Wir hörten auf zu reden, um unseren Speichel nicht zu vergeuden. Ein Sandwich heruntergedrückt, eine oder zwei Pflaumen, kaum Zeit, die Landschaft zu geniessen, und weiter gings. Plötzlich wurde alles anders: Die Temperatur war gefallen, der Himmel hatte sich verfinstert, das Gewitter erwischte uns mitten in der Geröllhalde. Was­ser­mas­sen stürzten herunter, die Füsse rutschten in alle Richtungen, unsere Jacken waren voller Schlamm und Dreck, wir waren nass bis auf die Haut. Und trotz dieser Sintflut der ständige Durst, treu wie ein Krankenpfleger.

Eine Kneipe in Bourvallon bietet uns friedliches Obdach, eine Offenbarung. Von den Platanen tröpfelt es spielerisch, die Bäume geben ein feuriges Licht ab. Die Kleider trocknen am Körper, die Schuhe stossen glucksende Seufzer aus. Die Sonne scheint wieder kräftig, wie durch das Gewitter neu belebt. Wir bewundern den beeindruckenden Felsriegel mit seinen Farben, dem Schattenwurf und dem Spiel der Restwolken. Der Tee und der Himbeersirup reichen aus, um uns zu regenerieren, geben uns wieder Kraft zum Lachen. Das Fenêtre des Ecouvets verspottet uns, ringt sich auch zu einem Lachen durch.

Und dann die Ernüchterung: Toinon! Wir haben vergessen, im Pass mit den anderen die Autoschlüssel zu tauschen!

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