Vom Eigergipfel in den Rollstuhl
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Vom Eigergipfel in den Rollstuhl Spitzenalpinist Jeff Lowe und seine grösste Herausforderung

Jeff Lowe hat an die 1000 Erstbegehungen auf dem Konto. Sein wegweisendes Solo in der Eiger-Nordwand im Februar 1991 kostete ihn fast das Leben. Doch eine degenerative Krankheit ist die bislang grösste Herausforderung seines Lebens.

Dies ist eine bewegende Geschichte, wie sie die Amerikaner über alles lieben. Es ist die Geschichte eines Menschen, den das Schicksal auf die Probe stellt und damit zum Helden macht. Der Plot ist Romanstoff, aber nichts daran ist erfunden. Es ist die Geschichte von Jeff Lowe, Bergsteiger und Eiskletterer der Sonderklasse, von einem Eigerhelden, der demütig eine Lähmungskrankheit annimmt, die ihn bald sterben lässt.

Das Wunder am Eiger

Im Winter 1990–1991 durchlebt Jeff Lowe eine tiefe Lebenskrise. Der Kletterer mit den 1000 Erstbegehungen ist traumatisiert vom Scheitern seiner Ehe, und er gibt sich selber die Schuld, dass er seine zweijährige Tochter nicht mehr sehen kann. Gleichzeitig geht er durch die Qualen einer Pleite, in der er sich mit ungeduldigen Gläubigern herumschlägt. Deprimiert macht er sich aus dem Staub. Er braucht einen Exploit, um sich neu zu erfinden.

Er reist nach Europa, fährt nach Chamonix, wo er Catherine Destivelle aufsucht, seit zwei Jahren seine Geliebte. Jeff plant einen Alleingang am Eiger. Catherine unterstützt ihn. Sie rüstet ihn mit Material aus und begleitet ihn an den Fuss der Eiger-Nordwand, der längsten und auch gefährlichsten Mixed-Route in den Alpen.

Im Februar 1991 balanciert Jeff auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod. Sein neuntägiges Wintersolo wäre um ein Haar schiefgegangen. Der Bergsteiger eröffnet eine sehr exponierte Route, die seither nie mehr wiederholt worden ist. Dem Schnee, der Kälte und dem Sturm trotzend, erreicht er wie durch ein Wunder den Gipfel, völlig erschöpft und an der Schulter verletzt. Sein sportlicher Exploit hat sich zu einem spirituellen Erlebnis gewandelt. Die Besteigung erlöst ihn von seinen Dämonen und verschafft ihm Zugang zu neuen inneren Ressourcen. Sie helfen ihm, sein Leben in den USA wieder in den Griff zu bekommen.

Eine heimtückische Krankheit

Drei Jahre später klettert Jeff Lowe Octopussy, eine legendäre Linie im Eis von Colorado. Dann schlägt die heimtückische Krankheit zu, mitten in ­einer Kletterei. Die Beine gehorchen ihm auf einmal nicht mehr, er stürzt. Einmal, zweimal. Immer häufiger. Die einsetzende Lähmung schränkt seine Bewegungsfreiheit ein. Schliesslich zwingt sie ihn in den Rollstuhl. Von einem Tag auf den anderen kann er nicht mehr sprechen. Ein Atmungsgerät lindert die Qualen. Sein Leben hängt an einem Stromkabel.

Die Ärzte finden zunächst nicht heraus, welche geheimnisvolle Krankheit den Kletterer lahmlegt. Als sie endlich eine seltene Form von Amyotropher Lateralsklerose (ALS) diagnostizieren, geben sie ihm noch drei Jahre. Das war 2008. Er lebt also gegenwärtig gleichsam in der Verlängerung. Der fast 65 Jahre alte Mann zieht mit seinem Lebensmut die Bewunderung seiner Angehörigen auf sich. Connie Self, eine langjährige Bekannte, die 2009 seine Partnerin wurde, sagt: «Die innere Kraft, die er in seinem Kletterleben an den Tag gelegt hat, hilft ihm jetzt, die letzten Seillängen auf seinem Lebensweg mit Heiterkeit anzugehen.»

Jeff Lowe kommuniziert, indem er Texte auf seinem iPad tippt. Er hatte die Energie, ein Projekt anzustossen, das letztes Jahr umgesetzt wurde: ein Dokumentarfilm, der von seinem Leben erzählt. Im November 2014 konnte Jeff der öffentlichen Premiere des Films in den USA beiwohnen. Niemand hatte damit gerechnet!

Der Film trägt den gleichen Namen wie die Route, die der amerikanische Alpinist am Eiger eröffnet hat: Metanoia. Das griechische Wort verweist in der Philosophie auf den Gedanken des Perspektivenwechsels, einer Veränderung der Sichtweise. In der Theologie bezeichnet das Wort den Schritt der Umkehr, mit dem sich der Mensch für eine höhere Dimension öffnet. Der rote Faden: Wiedergeburt. Ein weites Feld.

Aus Verzweiflung Kraft gewonnen

Die Schlüsselszene, die am Eiger gedreht wurde, zeigt den Bergsteiger Josh Warton in der Rolle von Jeff. Ein Sturm blockiert ihn, und er hat in einer Eisspalte Schutz gefunden. Hier hört er einen geheimnisvollen Ton, der aus der Felswand kommt, sich verstärkt und bis tief in seine Seele dringt. «Ich habe erlebt, wie das Erkennen ­einer tiefen Realität aufkommt, die ich zuvor nie hatte spüren können», sagt der Alpinist. Er zieht ein Foto seiner Tochter aus der Jacke und beschliesst, ein besserer Vater und ein guter Mensch zu werden. Nachdem er diesen Vorsatz gefasst hat, entkommt er der Falle und erreicht den Gipfel. Was etwas kitschig klingt, hat im Film seinen Platz.

Der vom Regisseur Jim Aikman gedrehte Film ist gleichzeitig ein Heldenepos und eine Lektion in Demut. Er zeigt einen Mann im Frieden mit sich und der Welt. Einen Mann, der dem Tod mit jener Weisheit und Klarheit in die Augen schaut, die aus ihm einen der brillantesten Alpinisten seiner Generation gemacht hat.

Filmfestival FIFAD

Der Dokumentarfilm Metanoia über Jeff Lowe wird im Wettbewerb des FIFAD, des internationalen Filmfestivals von Les Diablerets, gezeigt. Das renommierte Bergfilmfestival läuft vom 8. bis 16. August 2015. Mehr Infos in unserer Agenda auf Seite 66 oder unter www.fifad.ch.

Kurzbio von Jeff Lowe

Geboren 1950 in Utah (USA). Er realisiert über 1000 Erstbegehungen in den Rocky Mountains, den Alpen und dem Himalaya. Der ehemalige Partner von Catherine Destivelle ist der Bruder von Greg Lowe, dem Gründer der berühmten Marke Lowe Alpine.

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