Chronik von Mirja Lanz | Schweizer Alpen-Club SAC
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Chronik von Mirja Lanz 30. Juni 2019

Pfad Val Frisal. Geführt von Gian Rupf. Sein Gast, Arno Camenisch, Schriftsteller

Die schönsten Bilder vom Gehen, verweilen, lauschen, schweigen, hinschauen

Chronik zum Pfad von Mirja Lanz

Chischarolas - Alp Nova Miez - Frisal - Rubi - Chicharolas

11

Frisal
Vor ferner Zeit, lange vor dem dreissigsten Juni
Zweitausendneunzehn unserer Zeitrechnung
war dieser Ort Meer.
Da war mehr Wasser hier als heut,
und das namenlose Becken der Tethys
war grösser und breiter als der Trog,
den der Firn später in ihre Sedimente trieb.
Vor nicht ferner Zeit, als längst Kühe
auf den Alpen kalbten und ihre Kälber
leckten, zehrte die raue Eiszunge
aus und legte die Talwangen bloss,
den gekämmten Fels, Las Cordas, Faschas,
die Borten, Bänder, die das Hochtal jetzt
in der Mittagshitze umspannen.

 

1

Waldrand
Der Bus stoppt, wo die Fahrspuren versanden.
Die Grasnarbe ist frei und bildet eine Lichtung.
An der Feuerstelle auf dem leeren Picknicktisch:
ein Blumenstrauss. Ausflug mit einer Gesellschaft
von lauter niemand?

Franz? Fraanz!
Kafka schweigt,
aber die Hälse werden im Gebirge frei.
Gian, der Mann
mit dem gletscherblauen Grammophon
springt für ihn ein. Der Weg endet,
der Pfad beginnt, Flussrauschen
nimmt uns in Empfang.
Wir betreten den löchrigen Schatten
des Fichtenwaldes, sein Stock und Stein.

 

2

Fichten
Der Senn hängt an seinem Gleitschirm in den Rottannen
unterhalb der Hütte der Alp am Fusse des Sez Ner.
Er hängt mit dem Rücken zum Berg, von der Hütte aus
hört man ihn fluchen, mit dem Gesicht zur anderen Talseite.

Auf der anderen Talseite steht der Schriftsteller
am Fusse einer Rottanne, unterhalb ihrer
hängenden Äste und liest aus seinem Buch Sez Ner.
Er steht mit dem Rücken zum Tal, und die Usflüglers
sitzen unter ihren Hüten im Gras
und lauschen mit dem ganzen Gesicht.
Hin und wieder schielt ein Blick
über die Schulter des Schriftstellers
auf die andere Seite des Tals, wo der Piz Sezner
und seine Alpen gerade nicht sichtbar sind.
Die Fichte wiegt den Wind oder der Wind die Fichte,
das Romanisch wiegt das Deutsch oder das Deutsch
das Romanisch, der Mensch wiegt die Sprache oder
die Sprache den Menschen. Wer weiss, wer wen dichtet.

 

3

Pfad
Wir fädeln uns in die Steigung ein.
Unten bricht der Talboden weg.
Der Pfad spurt in den Hang und
sammelt unsere fallenden Schritte.
Langsam atmende,
schrittweise Gespräche
mit trittsichereren Pausen
über Höhenmeter,
Herausforderung
und fehlende Gipfel
stapfen aus den
Gedankengängen.
Die Wiese duftet, wilder Thymian
oder Quendel wandert von Hand zu Mund.
Wir sind verteilt, eine steigende Kolonne,
eine lose Reihe Menschen im Gang.
Im Auschnitt des V-Tals,
drüben,
auf der anderen Seite der Surselva
blitzen Fahrzeuge in der Hitze
von Obersaxen.

 

4

Alp
Alp Nova Miez ist von einem Zaun umgeben.
Er hält die Ausflügler bei der Hütte und beim Eistee
und die Plütter bei der Kuh. Der alte Stall duftet
kein bisschen mehr nach Mist
Holz und Schatten haben die leere Bühne für sich.
Gian, der Mann mit dem gletscherblauen Trichter,
weist nach Westen, über Bargis bis zum Kunkelspass.
Dort steckt der Schriftsteller den Kopf
unterwegs in jeden Trog.
Als er oben ist, sind die Gedanken blank,
wie die Brille der Alphirtin und die Alphirtin
ist schön wie der Herbst im Oktober.

Der Schriftsteller denkt über den Abschied nach
wie einst Sontga Margriata auf jener Alp.

 

5

Sontga Margriata
Der schöne Zusenn vom Kunkelspass
fiel auf einem Felsen bös auf's Knie
und entblösste zwei Brüste statt einer Brust.
Das war dem Hirtenbub zuviel:
"De Sänn mueses wüsse!"
"Und wänn er's nöd wüsse mues, gibi dir
drüü wiissi Hämpper, muesch si nie wäsche!"
"Die willi nöd die nimmi nöd. De Sänn mueses wüsse!"
"Drüü schöni Schaf, chasch's drüümal schääre!"
"Die willi nöd, die nimmi nöd. De Sänn mueses wüsse!"
"Drüü schöni Chüe, chasch's drüümal mälche!"
"Die willi nöd, die nimmi nöd. De Sänn mueses wüsse!"
"Drüü schöni Äcker, chasch's drüümal määje!
"Die willi nöd, die nimmi nöd. De Sänn mueses wüsse!"
"Und wänn er's wüsse mues, versink im Bode."
Da versank der Bub im Bode,
sogar drei Klafter tief im Bode,
und Sontga Margriata sagte Lebwohl.
Mit ihr blieb die Milch aus, das Wasser versiegte
und das Gras verdorrte am Kunkelspass.
Aber die Glocken läuteten,
bis ihre Klöppel abfielen.

 

6

Schweigen
Die lauten Gedankengänge der anderen
halten dich unterwegs von den Bergen ab,
sagen die einen. Die anderen sagen,
zusammen ist unsere Stille grösser
und ich bin kein einzelner Mensch mehr,
im soliden Schweigen von allen.
Die Stille ist nichts, sagen die Töchter dem Vater.
Stille ist einfach ein Ausweg, wenn man alles satt hat.
Heute ist der Ausweg eine Sackgasse: ein Stoffbeutel.
Wer will, wer kann wirft das Handy
in den Beutel rein. Der Rhein die alte Kuh
hat schon viele Traktoren gefressen
,
sagt der Beutel.

 

7

Das Getrappel der Tritte
taucht unter im schäumenden Bach.

Dem schäumenden Bach
entsteigt das Getrappel der Tritte.

 

8

Vierzig Minuten bröckeln von der Stille
nur die Schritte ab.

L
     R
  L
         R
         L
                 R
             L
                R
      L
          R
    L
               R

 

9

Wir haben das Schweigen zurückgelassen,
dort, wo das Tal sich in uns aufwölbte in Stille.
























10

Heisskalt
Der Sommer brennt auf die Schneekadaver des Winters.
Auf dem Talboden kommt der Zug des Hangs zum Stillstand.
Dort ist eine Gruppe Menschen unterwegs,
dem Ort überlassen, dem Flusslauf des Flem.
Die nackten Füsse gehen vor,
die Menschen folgen ihnen schwankend
durch den Kies im reissenden Bach, Bergschuhe
baumeln haltlos über dem milchigen Strom.
Der Kuhnagel schlägt an in der Gletscherschotte
und verklingt im heissen Moor, im schwarzen Moos.
Zehen graben sich in den silbergrauen Schlick,
in die Spur, die ein Paarhufer, ein Gletscher
hier zurückgelassen hat.

 

12

Wir treffen uns an der Endmoräne
Das Mittagslicht fällt senkrecht von oben,
wir hocken im Gras. Der Schatten hockt
im Schatten unter unseren Schuhen,
Rucksäcken und Hintern.
Gott ist weiss trotz der Lichtverhältnisse
oder weisslich sozusagen
mit düsteren nicht undunklen Stellen
schwarzartig schluckend eigentlich
vollschwarz soviel ist klar
totsicher

Sagt wer?
Sagt Gian.
Und der Giachen sagt,
er fahre nie rückwärts. Immer nur vorwärts.
Verfahre er sich, fahre er weiter, es führe immer
ein Weg zurück, auch wenn man vorwärts fahre.

 

13

Abzug
aus dem Familienalbum:
Marjatta verliess den Wald der Taiga,
das Moos und den kalten Fels von Kalevala,
und trat aus den Fichten des Uaul Scatlé
in die pralle Sonne der Alpen hinaus.
Vielleicht sah auch sie damals den Schatten bei Rubi
der ohne seinen Adler den Hang entlangflog.
Vielleicht sah auch sie, wie schmallippig
die Schneewechte am Kistenstöckli plötzlich wird,
wenn es heiss ist wie heut. Vielleicht schwebte ihr sogar
eine Badewanne vor,
in der einer sass mit einem Hirtenstock,
der eine Krone trug,
keinen Hut mit breiter Krempe.
Später schälte sich das Val Frisal
hin und wieder aus ihrer Erinnerung
wie damals die Kopfhaut vom Schädel.

 

14

Abwärts
Bunte Menschen kraxeln am Rand
eines schmierigen Altschneefeldes.
Der schäumende Flem hat die Scholle ausgehöhlt.
Nun nehmen die Menschen die Spur im Hang,
die wie eine Ader im Schotter zuckt.
Staubwolken hängen an den Fersen
der Gruppe. Der langgezogene, hagere
Fünfzigfüssler klimpert und scheppert
in den Bruchteilen eines Augenblicks
der Erdgeschichte.
Achtung:
Rasant macht das Tal eine Kurve,
die Kurve macht das Tal auf,
der Sonntagnachmittag rückt in den Blick
und mit ihm die Uhrzeit, der Fahrplan
und der Heimweg. Die Zentripetalkraft
des eigenen Lebensmittelpunkts
entwickelt einen Sog, der stärker ist
als die Gravität des Gebirges.
Die Menschen streben talwärts.
Gian, der Mann mit dem Trichter, hat vorgewarnt:
Schon im Ford Anglia, am Heck des Mercedes,
im Schoss der Familie, in der Kindheit der Mobilität,
heckten Huonders Ausflügler Überholmanöver
in den Alltag aus.
Bergab geht's einfach
einfacher.

 

Nachweis der kursiven Textstellen:

  1. Franz Kafka, Der Ausflug ins Gebirge, zitiert von Gian Rupf
  2. Arno Camenisch, Sez Ner, gelesen von Arno Camenisch
  3. Echo auf: Prosa von Arno Camenisch
  4. Echo  auf: Canzun de Sontga Margriata, erzählt von Gian Rupf
  5. Erling Kagge, Stille, zitiert von Gian Rupf
    Zitat auf dem Stoffbeutel von Arno Camenisch.
  6. Echo auf: Roland Heer, Überzeugung, zitiert von Gian Rupf
    Arno Camenisch, Sez Ner, gelesen von Arno Camenisch
  7. Echo auf: Gedicht von Arno Camenisch
  8. Echo auf: Silvio Huonder, Adalina, zitiert von Gian Rupf
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